Fitness-Mythos: dr. med. Arvid Neumann erklärt, warum Faszien wichtiger sind als Sport
NEUE METHODEN
GEGEN SCHMERZ
Leiden Sie an Rücken-, Nacken- oder vielleicht Knieschmerzen? Die Zahl derer, die in Deutschland betroffen sind, steigt. Dieses Thema greift der Orthopäde und Sportwissenschaftler Dr. med. Arvid Neumann mit seinem jüngst erschienenen Buch „Die Fitness-Lüge“ auf und geht orthopädisch neue Wege. Vielleicht jubeln Sie nun, als Sportskanone werden Sie es vielleicht nicht hören wollen, doch der Facharzt meint, Sport und Fitness seien nicht mit Gesundheit gleichzusetzen. Heißt es jetzt „Nichtstun“? Weit gefehlt. Chiara Kucharski hat mit ihm über des Rätsels Lösung gesprochen: die Faszie.
Eher unüblich für einen Mediziner, halten Sie Muskeln und Fitness für überbewertet.
Jeder Mensch möchte fit und gesund sein, das möchte ich auch. Die Fitness-Industrie hat dieses „fit sein“ geschickt mit Fitnesstraining als Notwendigkeit verbunden, um gesund zu bleiben. Das ist jedoch ein Irrglaube. Unter „Fit sein“ verstehe ich ein „in Form sein“. Wenn Sie richtig in Form kommen möchten, ist der alleinige Fokus auf Muskeln der falsche Weg.
Was ist Ihr Ansatz?
Nicht nur im Leistungssport, auch im Breitensport haben beziehungsweise bekommen viele Menschen Schmerzen und nehmen Schmerzmittel. Muskeln schützen nicht vor Schmerzen. Sowohl als Leistungssportler im Fußball und Breitensportler im Ringen als auch im Sportstudium habe ich viele persönliche Erfahrungen gesammelt. Sport ist nicht zwingend und ausnahmslos mit Schmerz verbunden, sehr häufig laufen sie jedoch parallel.
Warum?
Jede Sportart hat ihr eigenes Regelwerk. Bestimmte Bewegungsabläufe werden stets wiederholt, sodass eine spezifische Professionalität entsteht, andere Bewegungen kommen nicht ausreichend vor. Im Breitensportbereich sollte man sich erst recht fragen, was das eigentliche Ziel ist. Fußball spielen? Dann muss ich Fußball spielen. Spagat können? Dann muss ich das üben. 300 Kilogramm in der Beinpresse drücken? Dann bitte Muskelkraft trainieren.
So weit, so gut.
Den meisten geht es aber um ihre Gesundheit. Man will „Longevity“, möchte möglichst alt werden und dabei Qualität im Alter haben. Das ist aus meiner Sicht eine andere Zielstellung und ich empfehle dafür eher die natürliche Bewegung in den Alltag zu bringen, sich viel zu bewegen.
Viele Leute machen deutlich mehr Sport als in den Jahren und Jahrzehnten zuvor. Schritte und Herzfrequenzen werden getrackt und immer mehr Menschen gehen ins Fitnessstudio.
Die Fitnessindustrie macht Milliardenumsätze. Menschen wissen mittlerweile um die Bedeutung von Bewegung und sind überzeugt, mit Sport dauerhafte Gesundheit zu erreichen. Weder was die Körperform betrifft noch was die Kosten im Gesundheitssystem oder Operationszahlen angeht, sind die Menschen im Vergleich mit der Gesellschaft von vor zwanzig Jahren jedoch unbedingt gesünder geworden.
Interessant.
Nach aktuellen Studien haben über 80 Prozent der Bevölkerung einmal im Leben Rückenschmerzen, sehr viele haben es jeden Monat. Für viele ist es normaler Alltag, mit wiederkehrenden Schmerzen oder gar Dauerschmerz zu leben. Der Sixpack als Symbol für einen gesunden Körper ist jedoch der falsche Weg. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich empfehle nicht, eine Couch-Potato zu werden. Bewegung ist Leben.
Aber?
Wenn man durch tägliche Kraft- und Dehnübungen Schmerzfreiheit erreicht, beim Aussetzen von einigen Tagen aber wieder Schmerzen bekommt, dann sind diese Übungen keine ursächliche Therapie. Schön wäre es doch, wenn ich Sport aus Freude mache und nicht zwanghaft machen muss, weil ansonsten Schmerzen wiederkehren.
Über 80 % der Bevölkerung hatte schon Rückenschmerzen
Dafür haben Sie die Faszien-Orthopädie entwickelt?
Der Mensch ist nicht nur ein Rücken oder Knie. Körper, Seele und Geist gehören zu einem gesunden Menschen. Meine entwickelte Faszien-Orthopädie vereint eine innovative Denkweise, die auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Faszie beruht, mit einer manuellen Behandlungsform sowie einer der Faszie entsprechenden ursprünglichen Bewegungsform.
Was genau ist die Faszie?
Die Faszie ist faseriges Bindegewebe und bildet ein dreidimensionales körperweites Spannungsnetzwerk mit absoluter Kontinuität. Sie bestimmt unsere Körperform und ob wir uns mühelos, vital, geschmeidig bewegen oder abgehackt, unrund, steif. Wie Jean-Claude Guimberteau, Handchirurg und bedeutender Faszien-Forscher, spreche ich von einer einzigen Faszie, die im Körper alles verbindet. Sie ist unser reichhaltigstes Sinnesorgan, mit 250 Millionen Nervenzellen und kommuniziert permanent mit anderen Subsystemen des Menschen, wie dem Immun- und dem Nervensystem. Sie baut sich dynamisch, je nach Anforderung, ständig um.
Sie kommen richtig ins Schwärmen.
Die Faszie ist so ein wichtiger Teil unserer Gesundheit. Mittlerweile gibt es die Erkenntnis über eine Verbindung in das autonome Nervensystem. Die Faszie wird auch als emotionales Organ beschrieben. Deswegen ist die Faszien-Gesundheit für seelisches und körperliches Wohlbefinden so entscheidend. Neue Forschungen zeigen, dass selbst Depressionen mit Faszien-Verspannungen verknüpft sind. Auch Traumata speichern sich ich in den Faszien ab.
Was machen Sie als Erstes, wenn ich irgendwo Schmerzen habe?
In der faszien-orthopädischen Untersuchung schaue ich zunächst auf die Körperform in Statik und Dynamik, unter anderem beim Gehen. Die ganze Persönlichkeit ist im Körper niedergelegt. Ist das ein negativer Mensch oder strahlt er? Gibt es psychische Belastungen? Dann schaue ich, wie sich beim Gehen Schultergürtel und Hüften bewegen, ob beide Arme gleich schnell und weit mitschwingen, wie der Kopf steht. Da gibt es viele Informationen, die mir Aufschluss über den derzeitigen Status geben. Aber …
Ja …?
Unabhängig davon, ob der Mensch eine Fußdeformität hat oder wegen Nackenverspannungen kommt, untersuche ich nahezu jedes Gelenk und auch die Korrelation einzelner Gelenke zueinander. Ich möchte da stets demütig herangehen, auch wenn ich schon einzelne Problemfelder sehe. Faszien-Orthopädie ist ursachenbezogene Medizin, ich will nicht nur am Symptom rumdoktern. Ein weiterer Aspekt ist, ob es überhaupt Potenzial in der Faszie gibt.
Was meinen Sie?
Wenn ich denke, dass die Behandlung der Faszie nicht die spezielle Zielstellung des Menschen vor mir erreichen kann, denn Ziele werden stets erfragt und als Behandlungsanliegen festgelegt, dann sage ich das. In einigen Fällen ist vielleicht die Operation sinnvoller oder andere Therapiemöglichkeiten sollten präferiert werden.
Wie sagen Sie der Faszie: „Jetzt geh‘ du mal wieder an die Stelle und bleib da“?
Die Anpassungsfähigkeit der Faszie können wir extern durch eine Behandlung und allein mit der richtigen Bewegung nutzen. Die Behandlung erfolgt ohne Hilfsmittel, mit meinen Fingern, Handfläche, Unterarm und Ellbogen. Ich gehe in den Körper rein, streiche, drücke, ziehe oder halte fest und lasse den Patienten bestimmte Bewegungen machen. Lokale Spannungen und Bewegungsrestriktionen lösen sich auf, die Faszie wird gleitfähiger und ist mehr durchfeuchtet. Für die parallele Wahrnehmungsschulung lasse ich die Patienten immer „reinfühlen“ und frage nach, was sich verändert hat.
Der Patient muss sich Zeit für sich selbst nehmen
So schnell merkt man etwas?
Jede Behandlungstechnik hat im Idealfall auch eine direkte Auswirkung. Viele Patienten gehen anschließend zum Auto und müssen den Spiegel erstmal verstellen, weil sie größer und aufrecht sind. Andere merken, dass die Kleidung anders sitzt. Manche Patienten haben mir schon geschrieben, sie fühlten sich wie vor 20 Jahren. Aber natürlich gelingt das nicht immer.
Womit hängt das zusammen?
Der Ausgangszustand, auch hinsichtlich bereits existierender knöcherner Veränderungen, ist ein wichtiger Aspekt. Auch in der Zeit zwischen den Behandlungsterminen ist der Mensch eigenverantwortlich gefordert, sich richtig zu bewegen.
Inwiefern?
Wichtig ist, dass der Patient sich Zeit für sich nimmt und die gezeigten ökonomischen Bewegungsabläufe nach und nach in den Alltag integriert. Beim Sitzen, Schuh anziehen, Geschirrspüler ausräumen oder beim Kartoffel schälen, das beschreibe ich in meinem Buch genauer.
Haben Sie ein Ziel für Ihre eigene Gesundheit?
Mein Ziel und auch das für jeden Patienten ist, Weiterentwicklung zu erleben. Nicht Verfall, wie es üblicherweise mit zunehmendem Alter suggeriert wird: Top-Leistung mit 20, dann mit 80 am Rollator. Es gibt andere Möglichkeiten. Mit der richtigen Bewegung kann man ein Leben lang schmerzfrei und geschmeidig bleiben. Mein Ziel ist, mit 80 Jahren noch beweglicher und geschmeidiger zu sein als jetzt.
Das wäre optimal.
Auch jetzt bin ich bereits in einem viel besseren und fitteren Zustand, als ich es mit 20 oder 30 Jahren war. Nicht nur bin ich schmerzfrei, sondern kenne auch keine Verspannungen mehr.
Was machen Sie an Bewegung? Keinen Sport?
Als letztens ein Arztkollege fragte, welchen Sport ich mache, antwortete ich wahrheitsgemäß: keinen. Da ist ihm die Kinnlade heruntergefallen. Natürlich möchte ich ein authentisches Vorbild meiner Sichtweise sein und persönlich Erfolg haben, mit dem was ich anderen predige. Ein Orthopäde mit Hüftendoprothese ist in meinen Augen nicht der geeignete Experte für Prävention. Sonst hätte er sein Wissen doch selbst angewendet. Wie die rauchende Ärztin, die zum Nichtrauchen animiert. „Gute“ Patienten merken das.
Verständlich.
Aber ich bewege mich viel, gehe mit dem Hund raus, gehe spazieren. Ganz bewusst gehe ich achtsam mit meinen Bewegungen um. Wenn ich mit meiner Tochter auf dem Spielplatz bin, klettere ich mit, klettere mit auf die Bäume. Trampolin springen, Rückwärtsgehen, ständig barfußgehen, mich in die tiefe Hocke setzen. Diese Vielseitigkeit versuche ich zu leben.
Klingt gar nicht so kompliziert.
Solange man lebt, passt sich auch der Körper an. Wenn ich der Faszie dauernd sage, ich möchte acht Stunden am Tag sitzen trainieren, dann baut sie entsprechend um. Dann kann man richtig gut sitzen. Mit der richtigen Bewegung ist also sehr viel möglich. Bei manchen reicht das aus und manchmal braucht es die Unterstützung eines Therapeuten. Da bin ich dann gerne der Startbeschleuniger. Krankengymnastik, Krafttraining oder die OP sind mir wahrlich viel zu wenig Optionen. Mein Ziel ist es, inspirierend zu sein und zu sagen, dass es auch anders geht.
Arvid Neuman
Dr. med. Arvid Neumann, Jahrgang 1984, Studium der Sportwissenschaft und Humanmedizin. Der gebürtige Berliner betrieb Fußball als Leistungssport und ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Er war als Chefarzt in einer Rehaklinik und als ärztlicher Leiter der Schmerztherapie im Gesundheitszentrum bei Liebscher & Bracht tätig. Mittlerweile arbeitet er als Faszien-Orthopäde in seiner eigenen Privatpraxis und lebt im Taunus. Sein erstes Buch „Die Fitness-Lüge“ ist kürzlich im DuMont Verlag erschienen.
www.dumont-buchverlag.de/buch/arvid-neumann-die-fitness-luege-9783755800279-t-6008
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Elena Reinsch