Arndt Zinkant im Gespräch mit Münsters Kinderliedermacher Detlev Jöcker
LIEDER, DIE DAS LAUFEN LERNEN
Dass ein junger Mann, der mit den Beatles groß geworden ist, zur Gitarre greift, um als Rocker die Mädels zu begeistern, ist nicht ungewöhnlich. Dass es am Ende dann zahllose Kinderherzen sind, die ihm zufliegen, schon eher. So war es bei Detlev Jöcker. Nicht zuletzt durch die Liebe zu seinen eigenen Kindern entdeckte er sein Publikum, das ihm bis heute, nach weit über 1000 Jöcker-Liedern, die Treue hält. Im Gespräch blickt der gebürtige Münsteraner auf über 40 Jahre Karriere zurück, erzählt von Licht und Schatten – und auch von seinem Glauben.
Als Sie 65 waren, stand in einem Interview zu lesen, Sie hätten etwa 1300 Lieder geschrieben. Wie viele sind es mittlerweile?
Da müsste ich mal wieder nachzählen. (lacht) In jedem Fall bin ich sparsamer im Komponieren geworden. Bei den meisten erfolgreichen Popsongs ist es ja so, dass sie zügig die Spitze erklimmen, dann aber auch schnell wieder herunterkommen. Bei Kinderliedern ist das anders. Erst wenn ein Song für Kinder „Beine“ bekommt und laufen lernt, wird er überall bekannt und erfolgreich. Dann dreht er seine Runde durch die Kindergärten oder wird durch die Eltern an die Kleinen herangetragen. Das kann bis zu fünf Jahre dauern, bis sich dann ein Lied als Ohrwurm etabliert hat. Und ich hatte irgendwann auch das Gefühl, alle Kinderthemen schon in Form eines Liedes komponiert zu haben.
Also haben Sie sich anderen Dingen zugewandt …
Genau – bereits vor Corona habe ich zu meiner Frau gesagt: „Ich komponiere jetzt keine Kinderlieder mehr und trete auch nicht mehr öffentlich auf.“ Nach 40 Jahren Kinderbühne mit unglaublich schönen Erfahrungen und Erinnerungen wollte ich in der mir noch verbleibenden Lebenszeit einige Wünsche erfüllen, die nichts mit der Kindermusik zu tun haben. Die Anthroposophen sagen ja, der Seelenkopf richtet sich im zunehmenden Alter allmählich in Richtung Endlichkeit. Dann würde einem bewusst, dass die Lebenszeit nur noch begrenzt ist. Genauso ist es. Nach 40 Jahren als Kindermusiker und Inhaber des Menschenkinder Verlages, mit allem, was so dazugehört, also als Musiker, Macher, kreativer Kopf und Entscheider in Sachen Kinderlieder, habe ich mich mit dem Entschluss, keine Bühnenauftritte mehr durchzuführen, in meinem Leben neu positioniert.
Sind Sie rückfällig geworden?
Einmal ja: Die Leute von Sony kamen eines Tages mit einem Augenzwinkern auf mich zu und meinten: „Wir respektieren deine Entscheidung, keine Kinderlieder mehr zu schreiben, aber der ‚Gott des Algorithmus‘ verlangt momentan nach einem neuen Weihnachtssong.“ Tatsächlich ist es so, dass alle Kindermusiker versuchen, einen Song irgendwie in die eigenen Playlisten von Spotify und Co. zu platzieren, denn dann sind hohe Klickzahlen im Streaming garantiert. Dafür braucht es aber einen neuen Song. Und da vor allem auch meine Weihnachtslieder, wie zum Beispiel „Dicke rote Kerzen“ sehr erfolgreich geworden sind, habe ich dann doch nochmal ein Weihnachtslied komponiert.
Ein Song, der laufen lernt – ein schönes Sprachbild! Aber ein Kinderlied ist ja doch etwas anderes als ein Song aus den Pop-Charts. Wie kommt denn der kommerzielle Erfolg zustande – sind das mehr Tonträgerverkäufe oder eher Noten?
Als ich anfing, gab es zu jeder Musikkassette, die ich verkaufte, auch ein Liederheft, denn das brauchten die Kindergärtnerinnen für die Praxis. Die Kombi Musikkassette und Liederheft hat meinen Bekanntheitsgrad sehr gesteigert. Übrigens kann man heute mit dem Streaming, anders als früher mit dem MC- und CD-Verkauf, leider keinen nennenswerten wirtschaftlichen Erfolg mehr erzielen. Die Einzigen, die noch richtig verdienen, sind die Major Labels und die absoluten Megastars. Das ist für mich ein veritables Sklaventum und kulturzerstörend. Musikschaffende müssen wieder besser und gerecht entlohnt werden.
Und wie sind speziell Kinder als Zielgruppe?
Da muss man unterscheiden: Es gibt einerseits die Kleinkinder – bei diesen entdecken die Eltern vielleicht im Alter von einem Jahr, dass sie positiv und mit viel Freude auf Musik reagieren. Lieder für diese Altersgruppe müssen sehr einfach komponiert sein. Dann kommt das Förderalter, bei dem gerade meine Lern-, Spiel- und Bewegungslieder, die ich ursprünglich für meine eigenen Kinder komponiert hatte, ins Spiel kommen. Ich bin als junger Kinderliedermacher eine Art Erfinder gewesen. Dazu gehören verschiedene Gattungen, die es vorher in dieser Form noch nicht gab: Die sich selbst erklärenden Bewegungslieder (im Liedertext sind die Bewegungen vorgegeben), Babymusik, Minimusicals, Liederhörspiele und vieles andere.
Vor allen Dingen, sind Weihnachtslieder sehr erfolgreich
Das funktioniert über die Jahrzehnte?
Die Zeiten und der Musikgeschmack ändern sich und auch die Chefsessel sind nicht mehr mit den Leuten besetzt, mit denen ich früher mal ein Bier getrunken und Ideen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ausgetauscht habe. Jetzt sitzen dort junge Leute, die natürlich ihre eigene Vorstellung von einer Kinderliederwelt haben. Zurzeit passiert in der Kinderlieder-Szene das, was in der Popmusik der Sechziger geschah. Damals war ja musikalisch alles möglich und die Musik reich an ganz vielfältigen Klang- und Genreformaten. Auch heute haben die jungen Musiker und Musikerinnen, die oft auch junge Väter und Mütter sind, einen fantastischen Reichtum an musikalischen Ideen. Noch ist es aber so, dass die Platzhirsche wie Rolf Zuckowski, Detlev Jöcker und Volker Rosin mit ihren Kinderliederklassikern immer noch in aller Munde sind. Große Erfolge feiern zur Zeit Coverprojekte wie Simone Sommerland und andere. Simone Sommerland hat alleine von mir über 40 Kinderlieder wie „1, 2, 3 im Sauseschritt“ oder „Das Wachmacherlied“ nachgespielt. Das steigert den Bekanntheitsgrad meiner Lieder natürlich enorm.
Wie sind Sie eigentlich zu diesem Genre gekommen?
Durch meine eigenen Kinder. Vorher hatte ich mit der Rockmusik geliebäugelt und auch in diversen Bands gespielt. Ich war ja mit den Beatles groß geworden, die ich bis heute verehre. Als liebender junger Vater und leidenschaftlicher Musiker habe ich dann meine ersten Lieder am Wickeltisch erfunden. Ich bin überzeugt davon, dass ein ehrlicher und nachhaltiger Erfolg, egal um welches Thema es sich handelt, nur mit der Unterstützung des Herzens gelingen kann. Und Kinderlieder schreiben und singen war immer eine Herzensangelegenheit für mich.
Ende der Siebzigerjahre haben Sie zum christlichen Glauben gefunden, zu einer Zeit, als viele Musiker nach Indien gepilgert sind oder im Drogenrausch Erfüllung suchten. Wie hat Sie das verändert?
Gerade als junger Mensch war ich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Das führte mich natürlich auch durch die Höhen und Tiefen eines prallen Lebens. Als junger Erwachsener und Hippie in den 70er Jahren interessierte ich mich für die indische Glaubenswelt und Mythologie. Ich bin über meine Beatles-Begeisterung darauf gestoßen, die ja auch Erfahrungen damit gemacht haben. Über das spätere Beschäftigen mit den Ursprüngen des christlichen Glaubens erfuhr ich, dass die Bibel nicht wörtlich zu verstehen ist, sondern aus lebenserklärenden Metaphern und Gleichnissen besteht, die auch in anderen Religionen zu finden sind. Im Grunde genommen gibt es nur einen Gott, den man unter verschiedenen Namen kennt.
Wie ging das mit der Musik zusammen?
Es kam 1975 die Anfrage, ob ich nicht als Bassist bei der Peter-Janssens-Band, einer christlichen Band aus Telgte einsteigen wollte. „Pit“ hatte religiöse Lieder im Genre Sacro-Pop geschaffen, die es so vorher nicht gegeben hatte, und er stellte damals eine junge Band zusammen. Ich bin dann bei den unzähligen Auftritten in Kirchengemeinden und auf Kirchentagen Menschen begegnet, die im Namen ihres Glaubens Gutes bewirkten. Das zu erleben, war für mich eine wirklich menschenfreundliche und glaubwürdige Art von Nächstenliebe und Ausdruck einer lebendigen Kirche. Das hatte mit dem, was wir an verkrusteten Strukturen, von den furchtbaren Missbrauchsskandalen ganz zu schweigen, in der Amtskirche erleben, so gar nichts zu tun. Diese „freie“ Erfahrung hat mich zum Glauben geführt.
Warum sind Sie Musiker geworden?
Als ich mit 13 zum ersten Mal die Beatles hörte, war es um mich geschehen. Man darf nicht vergessen, dass den Beatles Tausende von Mädchen zugejubelt haben. „Ach, so einfach geht das!“, dachte ich – man muss einfach nur Musik machen. (lacht)
Mit 15 das erste Mal die Beatles gehört, da war es um mich geschehen
Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie Münster nie verlassen haben?
Es ist einfach meine Heimatstadt. Ich bin hier geboren, aufgewachsen in der Goebenstraße. Das hat mich alles sehr geprägt. Irgendwann habe ich sogar mitten in der Stadt, oben in einer Art Penthouse gewohnt. Da bin ich mit Münster aufgestanden und ins Bett gegangen. Ich habe Münster ein- und ausgeatmet und war der Stadt somit besonders nah. Da ist die Liebe zu meiner Heimatstadt noch gewachsen. Das alles habe ich übrigens in der Münster-Hymne „Münster, ich liebe dich“ hineingeschrieben und komponiert. Seit neun Jahren wohnen wir in den Baumbergen auf einem Bauernhof. Aber wir sind sehr oft, auch aus familiären Gründen, in Münster.
Was war Ihr schönster Erfolg?
Schwer zu sagen, es gab so viele schöne Ereignisse, aber am Ende geht es doch immer nur um Erfahrungen, die uns zeigen, worum es im Leben geht, um die Fähigkeit, sich selbst und andere zu lieben. Auch bei meinen Kinderkonzerten ging es darum. Auf der Bühne zu stehen und zu spüren, dass durch meine Lieder Kinder, Eltern, Großeltern und der Sänger auf der Bühne von einer Energie der Freude am Leben getragen wurden, war immer etwas ganz Besonderes. Sehr berührt haben mich die Momente, wenn Kinder den Mut fanden, nach vorne zur Bühne zu kommen, um mir zum Beispiel ein selbstgemaltes Bild zu überreichen. Ich habe im Verlag eine Mappe, in der ich solche Bilder aufbewahre und mir immer mal wieder voller Dankbarkeit anschaue.
Im Studium haben Sie auch Kontakt zur Klassik gefunden?
Auch das – so liebe ich zum Beispiel die Musik von Bach und Mozart, aber auch nicht alles von ihm. Die Auswahl der Musik ist immer stimmungsabhängig. Apropos klassische Musik: Ich bekam vor etwa acht Jahren ein Angebot von den Duisburger Philharmonikern, ein Weihnachtsalbum mit meinen Liedern einzuspielen und zu singen. Deren erster Flötist war ein begnadeter Arrangeur und hat die Arrangements für das Orchester geschrieben. Dann kam die erste Probe und ich habe Rotz und Wasser geheult, so berührt war ich davon, einige meiner Lieder mit einem der renommiertesten europäischen Symphonieorchester im Klassiksound zu singen. Das war mit Sicherheit eines der musikalischen Highlights in meiner Musikerlaufbahn.
Was war das erste Lied, das Sie stolz gemacht hat?
Das Lied „Heut ist ein Tag, an dem ich singen kann“, das ich für meine Schwiegermutter, Lore Kleikamp, die Grundschullehrerin in Roxel war, komponiert hatte. Irgendwann saßen wir beim Kaffee und sie sagte zu mir: „Das, was ich brauche, sind ganz einfache Lieder, mit Textpassagen, die sich wiederholen, denn das lieben und brauchen Kinder.“ Ich sagte ihr, die Melodie traute ich mir auf jeden Fall zu, bei den Texten sei ich mir aber nicht sicher. Dann zog sie sich vom Kaffeetisch zurück in ihr Arbeitszimmer und legte mir eine kurze Zeit später den Text des Liedes vor. Ich hatte zum Glück eine Gitarre dabei, spielte ein bisschen dazu und plötzlich war die Melodie da. Lore Kleikamp hat dann später die ganzen Texte der „Sauseschritt-Lieder“ geschrieben. Mit dieser neuen Art von Lern-, Spiel- und Bewegungsliedern konnte ich damals eine Sparte bedienen, die Rolf Zuckowski damals nicht bediente. Später fing ich dann an, musikalische Fortbildungsveranstaltungen für Erzieherinnen und Lehrerinnen durchzuführen. Aus anfangs acht Teilnehmerinnen wurden dann immer mehr. Ich trat viele Jahre mit dieser Veranstaltung in ausverkauften Stadthallen auf und verkaufte dabei unzählige Musikkassetten und Liederhefte. Und so bin ich in Deutschland bekannt geworden.
Detlev Jöcker
Er wurde 1951 in Münster geboren, studierte hier Musik und war Ende der 70er Jahre Mitglied in der Sacro-Pop-Band von Peter Janssens. Er übt eine rege Konzert- und Seminartätigkeit aus und arbeitet seit 1986 als Komponist und Verleger in Münster, wo er auch seinen Menschenkinder Verlag gründete. Für mehr als 13 Millionen verkaufter Tonträger bekam Jöcker vom Bundesverband der Musikindustrie bisher neun Gold- und sieben Platinauszeichnungen.
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Armin Zedler