Tom Feuerstacke und Dietrich mit einem verbalen Blick auf die kommende Fußball-Europameisterschaft
FUßBALL-EUROPAMEISTERSCHAFT UND KEINE FLUCHT IN DISKUSSIONEN
Nach der Weltmeisterschaft in Katar haben wir die Chance, bei der Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land vieles wiedergutzumachen. Wir können beweisen, dass wir gute Gastgeber sind. Dass nicht die Politik, sondern der Sport das Event bestimmt. Dass wir zusammenrücken, wie wir es 2006 beim Sommermärchen taten und nicht dauerhaft die Nationalmannschaft in Sippenhaft nehmen und die Verantwortung für gesellschaftspolitische Probleme übergeben. Vielmehr sollten wir hoffen, dass dieses Turnier Spannungen abbaut, die Angst vor der Multikulturalität nimmt und Akzeptanz schafft, dass unsere Gesellschaft bunt ist.
Dietrich. Die Fußball-Europameisterschaft 2024 im eigenen Land steht uns bevor. Ein Mega-Event, nicht nur für eingefleischte Fußballfans. Auch gesellschaftspolitisch kann diese EM einiges bewegen. Was erwartest du vom Fußballsommer?
Gesellschaftspolitisch betrachtet müssen wir realisieren, dass Deutschland seit der Heim-Weltmeisterschaft 2006 ein anderes Land ist. Wir sind gespalten in politischen und gesellschaftlichen Fragen. Zudem befindet sich eine starke rechtsextreme Partei im Parlament. Der Blick auf die Nationalmannschaft hat sich verändert.
Dass sich unser Land in den knapp zwanzig Jahren seit dem Sommermärchen 2006 verändert hat, ist nicht zu übersehen. Sicherlich ist der Blick auf die Nationalmannschaft ein anderer. Wie nimmst du diese Sicht wahr?
In den 60er- und 70er-Jahren hielt sich die Politik in Deutschland relativ zurück, wenn es um den Sport ging. Beispielsweise bei der Weltmeisterschaft 1954 in Bern war kein hochrangiger Politiker anwesend. Das lag daran, dass man sich von der starken Politisierung des Sports durch die Nazis distanzieren wollte. In den 60er-Jahren änderte sich das ein wenig. Bei Spielen von Eintracht Frankfurt wurde gelegentlich der FDP-Politiker Wolfgang Mischnick gezeigt, der einer der wenigen namhaften Politiker war, die im Bundesligastadion zu sehen waren. Auch außerhalb Deutschlands, wie bei den Olympischen Spielen 1972, hielt sich die deutsche Politik zurück. Helmut Schmidt zum Beispiel war kein großer Fußballfan und empfand Fußball als eher langweilig.
Das hat sich deutlich geändert. Fußball wird politisch instrumentalisiert. Das von allen und jedem. Besonders gesellschaftspolitisch wird ihm alles abverlangt. Es vereinfacht die Leichtigkeit des Fußballs nicht. Wann kam dieser Wandel?
In den 80er-Jahren unter Helmut Kohl änderte sich das. Er suchte die Nähe zur Nationalmannschaft und versuchte, sie politisch zu nutzen. Nach der WM 1990 in Italien, wo Fußball immer sehr politisch war (man denke an Silvio Berlusconi und AC Milan), kam es auch in Deutschland zu einer zunehmenden Politisierung des Fußballs – und zu einer Fußballarisierung der Politik. Politiker begannen, häufiger Fußballanalogien in ihren Reden zu verwenden und ihre Nähe zu Fußballvereinen zu betonen. Der Fußball erfuhr eine weitere soziale Ausbreitung, erschloss neue Milieus, gewann weiter an Bedeutung. Die Politik konnte da nicht im Abseits verharren. Zeitgleich entstand in den 90er-Jahren eine kritische Fan-Bewegung, die ethische und moralische Ansprüche stellte und sich gegen Rassismus, Homophobie und Sexismus aussprach. Diese Bewegung war in den 60er, 70er- und 80er-Jahren kaum vorhanden.
Hast du dafür ein Beispiel?
In den 70er-Jahren war ich in Dortmund oft Stammgast auf der Südtribüne, wo es meist nur Männer gab. Der Respekt und das Miteinander waren damals anders als heute. Rassismus auf der Südtribüne war eine völlig akzeptierte Norm. Wenn jemand dagegen aufbegehrte, wurde ihm gesagt, dass er aufhören solle, Politik zu machen. Vor ein paar Jahren hatten wir die Situation im Stadion des SC Preußen Münster, ich glaube gegen Würzburg. Ein schwarzer Spieler wurde rassistisch beleidigt und das ganze Stadion stand auf und rief »Nazis raus«. Wir erleben einerseits eine Wiederkehr des Rassismus in den Stadien, aber andererseits sehen wir auch eine Gegenwehr, die in den 60er, 70er- und 80er-Jahren undenkbar war. Es ist ein vergleichsweise neues Phänomen.
Ein schwarzer Spieler, wurde rassistisch beleidigt
Vor der letzten WM trafen wir uns beide zum Gespräch. Die Gesellschaft war zerstritten, was den Umgang mit der Weltmeisterschaft betraf. Der DFB hatte Fehler gemacht. Welche Chance haben wir, die Fehler, die wir bei der WM in Katar gemacht haben, wiedergutzumachen?
Ein Problem bei der WM in Katar war, dass man sich erst spät mit den Problemen auseinandergesetzt hat und es gab keine klaren Handlungsanweisungen. Beim DFB herrschte eine gewisse Orientierungslosigkeit, bei den vielen Wechseln an der Spitze auch kein Wunder. Auch war es extrem schwierig, die Mannschaft hinter einer Aussage zu vereinen. Eine Profimannschaft ist ein extrem heterogenes Projekt, eine Ansammlung von Spielern mit unterschiedlichem Bildungsniveau und aus unterschiedlichen kulturellen, religiösen und sozialen Milieus. Und dann noch die Altersunterschiede: Sie haben Jungs im Team, die sind 19 oder 20 – und welche wie Manuel Neuer, die sind über 30 und denken einfach anders. In Sachen Rassismus war man sich vielleicht noch einig, beim Thema Homophobie schon nicht mehr. Es gab offensichtliche Spannungen innerhalb des Teams, die die sportliche Performance beeinträchtigten. In einer Mannschaft ist es schwierig, eine einheitliche politische Linie zu finden. Das ist eine Aufgabe des Verbandes.
Zwei Dinge, die wir sauber umspielt haben, bis jetzt. Deine Aussage, rechtsextreme Parteien und der Blick auf die Nationalmannschaft. Wie genau meintest du das?
Die rechten Stimmen glaubten jetzt, dass sie wieder die Oberhand gewonnen hätten, weil Rudi Völler sich in einem Interview – ohne Not – abfällig zu Themen wie Gendern, die Regenbogenbinde und über die Klimakleber geäußert hatte. Also, wenn man die Beiträge der Rechten liest, dann hofft man da ganz offen auf das Scheitern der Nationalelf, die nicht wirklich eine Nationalelf sei, sondern, mit den Worten von Björn Höcke, die Auswahl von „Buntland“. Die Auswahl eines „rot-grün versifften“ Verbandes. Dieses Turnier soll nicht zur Versöhnung und Spannungsabbau beitragen. Früher war es so: Die Rechte war beinhart pro Nationalmannschaft, die Liberale, Grüne und Linke waren hingegen eher skeptisch eingestellt. Im Stadion habe ich Länderspiele nie genossen. Es war nicht so positiv und enthusiastisch wie bei Vereinsspielen. Manchmal war es sogar deutlich rechtsorientiert. Dann kam diese Diskussion um das Marketingetikett „Die Mannschaft“ – ohne den Zusatz »deutsch«. Halt Marketing, wie wir es auch bei den Vereinen erleben. Nicht mehr und nicht weniger bescheuert als Bayerns „Mia san mia“ und Dortmunds „Echte Liebe“. Aber die Nationalmannschaft sollte so wie früher sein – und früher war bekanntlich alles besser. Seit einigen Jahren habe ich den Eindruck, dass die Rechte das Gefühl hat, man habe ihr etwas weggenommen. Die Vereinsmannschaften sind schon lange nicht mehr nur weiß, dann soll wenigstens die Nationalmannschaft „echtes Deutschtum“ repräsentieren. Aber das ist vorbei.
… jetzt haben wir unser neues pinkfarbenes Trikot …
Bei der Inthronisierung Völlers stand vielleicht auch der Gedanke Pate, mithilfe dieser Personalie den Stammtisch zu befriedigen, der sich in den vergangenen Jahren abgekoppelt wähnte. Nun musste man aber feststellen: Ein bisschen Regenbogen gibt es weiterhin in Form dieses neuen Trikots. Ein Trikot, das die Vielfalt repräsentiert, wie auch Rudi Völler in seiner lobenden Erwähnung der Adidas-Präsentation betonte. Es scheint, als sei dieses Trikot mehr als nur ein Kleidungsstück. Und es ist ein Verkaufsschlager. Es ist möglich, trotzdem für Vielfalt zu demonstrieren, auch ohne die Binde zu tragen, aber den Geist der Vielfalt aufrechtzuerhalten. Es geht nicht mehr nur um die Farben der Schuhe oder das Design der Trikots. Die Nationalmannschaft ist ein Symbol für den Zusammenhalt eines Landes, und das sollten wir in unserer Unterstützung reflektieren.
Es fiel in der Vergangenheit auf, dass, wenn politische Maßnahmen nicht rechtzeitig ergriffen wurden, die Mannschaft als letztes Mittel mobilisiert wurde. Alles dreht sich darum, ob Manuel Neuer die Regenbogen-Kapitänsbinde tragen sollte. Aber jeder, der mit Fußball vertraut ist, weiß, dass es andere Möglichkeiten gibt, ein Statement abzugeben. Und das, ohne eine Strafe zu riskieren. Doch aus einem mir unbekannten Grund bleibt es ruhig um die Nationalmannschaft. Vielleicht deshalb, weil wir trotz aller Erwartungen mit drei Mannschaften immer noch auf dem Weg zu den Finalen der europäischen Clubwettbewerbe sind. Es gibt wieder eine Fußball-Euphorie in Deutschland. Es wird nicht mehr über einzelne Spieler oder Mannschaften diskutiert, sondern man ist voller Vorfreude, wie wir uns als Team entwickeln werden?
Die letzten beiden Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande haben etwas verändert. Nagelsmanns Maßnahmen haben sich als richtig erwiesen. Bei einem Turnier benötige ich Ruhe im Team. Teamgeist ist extrem wichtig – man hockt vier Wochen und mehr aufeinander. Als wir 2014 Weltmeister wurden, bestand der Kader nicht nur auch Stars. Es waren Spieler dabei, die wussten, dass ihre Einsatzchancen sehr gering waren. Die einfach glücklich darüber waren, dabei zu sein. Die deshalb nicht den Betriebsfrieden störten. Bei der WM 1994 war der Kader in seiner Tiefe besser als bei der WM 1990 – und dies gilt auch für den WM-Kader von 2018 gegenüber dem von 2014. Mit einem auch in seiner Tiefe sehr starken Kader ist man 1994 und 2018 als Titelverteidiger gescheitert. So ein auf vier Wochen konzentriertes Turnier ist eine andere Sache als eine Meisterschaft. Die Stimmung ist dabei von entscheidender Bedeutung. Wir sind nicht nur gute Gastgeber bei der Europameisterschaft, sondern haben auch das Potenzial, erfolgreich mitzuspielen. Insbesondere der Erfolg unserer Vereinsmannschaften in Europa trägt dazu bei. Auch wenn der geplante Investorendeal nicht zustande gekommen ist und die Premier League angeblich Lichtjahre entfernt scheint, können wir deutsche Vereine konkurrieren.
Man war einfach glücklich dabei zu sein
Bayern wurde dieses Jahr nicht deutscher Meister. Es ist erfrischend, einen anderen Meister als Bayern München zu haben. Auch wenn es überraschend sein mag, dass Bayer Leverkusen den Titel holt, haben wir es dennoch erreicht. Das hat doch einen Effekt?
Dies trägt sicherlich zur Aufhellung der Stimmung bei. Wenn deutsche Mannschaften in Europa nicht gut abschneiden, könnte sich die Stimmung schnell trüben. Doch zum Glück ist das momentan nicht der Fall.
Es gibt verschiedene Arten von Fußballfans. Es gibt die Intellektuellen, die alles hinterfragen und sich über politische Themen wie die Linke oder die AfD austauschen. Dann gibt es die leidenschaftlichen Fans, die sich über Trikotfarben oder die »Genderscheiße« aufregen. Es ist interessant zu sehen, wie vielfältig die Meinungen und Vorlieben der Fans sind. Allerdings ist es auch beängstigend, wie radikal Fans sein können. Wie würdest du Diversität im Fußball auf den Punkt bringen?
Wer sich nicht für Fußball interessiert, spielt metaphorisch gesprochen »Salzfußball« und freut sich über das Desinteresse seiner Mitmenschen an der Nationalmannschaft. Jemand, der wirklich an Fußball interessiert ist, beobachtet gespannt das Spiel und erfreut sich daran, dass die Spieler auf dem Platz ihr Bestes geben. Diese Person hört vielleicht sogar regelmäßig Podcasts darüber und genießt dabei eine entspannte Atmosphäre. Sie stehen erhobenen Hauptes da und sagen: »Wir sind sehr stolz darauf.« Große Teile der jüngeren Generation sind nicht mehr so verbissen. Sie können auch mal sagen, dass ein anderes Land gut spielt. Und auch dessen Trikot tragen. Sie haben nicht dieses unbedingte Bedürfnis, dass Deutschland immer Weltmeister sein muss.
Die Fans ändern sich und das ist gut so. Der Blick auf den Fußball ist so vielfältig wie unsere Gesellschaft, die sich immer bunter darstellt. Die Sichtweisen sind spannend?
Der in der Gesellschaft tobende Kulturkrieg wird auch um die Nationalelf ausgetragen. Man könnte glauben, dass der DFB versucht, alle und alles unter einen Hut zu bringen. Rudi Völler für das traditionelle Milieu, Andreas Rettig für die kritischen Fans – ich hatte mit Rettig einige Veranstaltungen während der #boycottqatar2022 Kampagne. Dann Julian Nagelsmann als junger und moderner Trainer, der sich aber, das mag einige irritieren, mit Völler bestens versteht. Und Völler auch mit Rettig. Ich habe den Eindruck, dass der DFB eine gesunde und funktionierende Konstellation gefunden hat. Deshalb möchte ich nicht ausschließen, dass uns die Nationalmannschaft positiv überraschen wird.
Dietrich. Wie ist dein Tipp?
(Lacht) 2004 habe ich vor dem Viertelfinale gesagt: Ich sehe sieben Anwärter auf den Titel – nur die Griechen, die werden es nicht. Deshalb sage ich jetzt, dass die deutsche Nationalmannschaft, obwohl sie in den vergangenen Jahren schlecht gespielt hat, bei diesem Turnier gut abschneidet, vielleicht sogar das Finale erreicht oder noch mehr.
Dietrich Schulze-Marmeling
Der 1956 in Kamen geborene Sachbuchautor ist Verfasser von über 30 Werken zum Thema Fußball. Das Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur verfasste 2024 unter anderem die Bücher: »Giganten. Die größten EM-Spiele aller Zeiten« und »1974. Die WM der Genies«. Des Weiteren erschien in fünfter Auflage „Tradition schießt keine Tore“, ein Buch, das er gemeinsam mit Marco Bode geschrieben hat.
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Dietrich Schulze-Marmeling