
Peter Sauer spricht mit Lilli L’Arronge
EIN GUTES BUCH SCHLÄGT JEDES SMARTPHONE
Über 20 Jahre lebt Lilli L’Arronge in Münster und möchte hier auch nicht mehr weg. Sie fand in der Domstadt ihre große Liebe, am alten Güterbahnhof eine tolle Ateliergemeinschaft und in Mecklenbeck ein schönes Zuhause. Mit ihren ausdrucksstarken, pointierten und tiefsinnigen Büchern begeistert die Zeichnerin, Autorin und Illustratorin nicht nur junge Leser.
Du kamst am 3. Oktober 2004 nach Münster. Was hattest du im Gepäck?
Meine Matratze und einen großen Koffer. Damit zog ich in Ermangelung eines richtigen Zimmers in die Abstellkammer eines mir völlig unbekannten Mannes namens Robert Nippoldt ein. Das Studium der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus Uni Weimar hatte ich gerade mit einem Kinderbuchprojekt abgeschlossen. Jetzt wollte ich einen Verlag dafür finden und als Illustratorin Geld verdienen.
Warum Münster?
Ein Freund aus Münster hatte mir erzählt, dass hier ein guter Ort dafür sei, um zu lernen, wie das geht. Also habe ich zwei Gastsemester bei Professor Herrenberger am Fachbereich Design „gebucht“ und mir einen Atelierplatz am Hawerkamp besorgt. Der Plan war eigentlich, nur ein Jahr zu bleiben und dann zurück in meine Heimat Regensburg zu ziehen.
Und uneigentlich?
Bald hatte ich Robert und die Abstellkammer so liebgewonnen, dass ein Umzug in weite Ferne rückte. 2008, nach einer Weltreise, hatten Robert und ich kurz die Idee, Münster dauerhaft den Rücken zu kehren. Aber bevor wir das umsetzten, wurde uns eine herrliche WG-Wohnung in Klein-Muffi angeboten. Da bin ich aus der Abstellkammer in ein richtiges Zimmer gezogen und wir sind hiergeblieben.
Wie hat das mit dem Zeichnen und Illustrieren angefangen?
Seit ich einen Stift halten konnte, habe ich gezeichnet. Auf jedes Papier, das mir in die Finger kam. Einmal hat es sogar die Klausuren auf dem Schreibtisch meines Vaters erwischt. Er musste dann seinen Studenten erzählen, dass seine dreijährige Tochter ihre eigenen Korrekturvorschläge eingezeichnet hatte. Er war mir nicht wirklich böse, er war auch ein bisschen stolz, dass ich für mein Alter schon so gut zeichnen konnte.
Wie war deine Kindheit?
Wir drei Kinder haben alle viel gezeichnet. Unsere Eltern haben das immer gefördert. Meine Taufpatin hat auch gemalt und mir viele Stifte und Künstlerfarben geschenkt. Mit zwölf bekam ich meine ersten Ölfarben. Ich beschloss, Künstlerin zu werden. Aber eine andere Tante sah meine Bilder und meinte. „Du wirst doch bestimmt mal Kinderbuchillustratorin“. Da war ich erstmal beleidigt.
Aber nicht lange, oder?
Richtig. Mit 18 habe ich tatsächlich als Facharbeit im Leistungskurs Kunst mein erstes Bilderbuch gemacht: „Lisa und der Strudelmann“ – über die Regensburger Sagenwelt. Da war meine Tante so begeistert, dass sie mir den Druck von 1000 Exemplaren bezahlt hat. Sie hat ihre Prophezeiung selbst erfüllt. Veröffentlicht wurde das Buch bei einem kleinen Regensburger Ein-Mann-Verlag, der eigentlich auf Astrologie-Bücher spezialisiert war und keine Ahnung von Kinderbüchern hatte. Also musste ich mir was einfallen lassen.
Und was?
Ich habe mir einen Nixenschwanz genäht, die Haare rot gefärbt und mich komplett grün angemalt. So als Donaustrudelnixe verkleidet, haben wir das Buch auf Stadtfesten verkauft. Auch habe ich Lesungen in Schulen und Kindergärten gemacht. Nach zwei Jahren hatten wir alle Bücher verkauft.
Du lebst mit deinem Mann Robert und euren beiden Töchtern in Mecklenbeck. Warum fühlst du dich da so wohl?
Das liegt an unserem tollen Garten mit alten Bäumen. Außerdem leben wir in einer Haus-WG, die mir sehr viel bedeutet. In der Innenstadt wäre das schwer zu verwirklichen. Wir sind hier vor acht Jahren gelandet und haben es nicht bereut, denn neben den netten Nachbarn gibt es in Mecklenbeck die leckerste Eisdiele der Stadt („Eiscafé Delizioso“), die schönste Give-Box Deutschlands (Hof Hesselmann), den sympathischsten Bioladen („Eggerts Scheune“) und wir haben sogar einen ortseigenen Buchladen „(Lesezeit“). Außerdem liebe ich den Trimm-Dich-Pfad an der Mecklenbecker Straße namens „Älter werden in Mecklenbeck“. Das ist hier mein Motto!

Bücher müssen auch den Vorlesenden gefallen
Wie entstehen deine Bücher? Gibt es ein Storyboard?
Tatsächlich läuft das bei mir nicht nach Schema F, dazu sind die Projekte zu verschieden. Manchmal geht das superschnell. Zum Beispiel bei „Ich groß, du klein“ war das Storyboard innerhalb von drei Tagen fertig. Das war mein Rekord. Bei anderen Büchern mit schwierigeren Themen wie zum Beispiel „Anders zu Hause“, das von Jugendlichen in Wohngruppen handelt, haben die Autorin Kathrin Schrocke und ich zwei Jahre lange recherchiert, bevor ich richtig zu zeichnen angefangen habe.
Was ist das Schwierigste beim Entstehen eines Buches mit Illustrationen?
Der Text. Viele denken ja, Texte für Bilderbücher zu schreiben wäre einfach, ist ja „nur“ für Kinder. Ich halte das aber für eine ganz besondere, eigene Kunst. Die Idee muss zünden, der Text muss auf den Punkt sein, er muss Ansätze für Illustrationen liefern, darf nicht zu viel erzählen, sonst bleibt ja nichts mehr für die Illus. Wenn der Text gut ist, macht es sehr viel Spaß, ihn zu illustrieren und es zeichnet sich fast von allein. Ist der Text schlecht, dann ist es ein Kampf.
Du zeichnest viele Bücher für Kinder, hast einen ganz eigenen, wunderbaren und authentischen Stil im Umgang mit der jungen Leserschaft. Was ist dabei wichtig?
Die Kinder ernst zu nehmen, das heißt, sie in ihrer Welt abzuholen. Gleichzeitig will ich ihnen auch was zutrauen, das heißt, es dürfen auch mal schwierigere Wörter vorkommen. Ich habe zum Beispiel lange um den Titel meines Buches „Anna und der Meerschweinchenvampir“ gekämpft. Es ist ein Erstlesebuch für Kinder ab der 2. Klasse, das ich noch unter meinem Mädchennamen „Christine Goppel“ veröffentlicht habe. Die Lektorin meinte, der Titel wäre viel zu schwer für die Zielgruppe. Ich finde: Er ist schwer, aber so spannend, dass die Kinder ihn trotzdem lesen wollen!
Konntest du dich durchsetzen?
Ja, und das Buch hat sich sehr gut verkauft. Was mir bei meinen Büchern außerdem wichtig ist: Sie müssen auch den Vorlesenden gefallen! Was war das manchmal eine Qual, wenn ich meinen Kindern schlechte Bücher mit rosa Glitzerprinzessinnen vorlesen musste, die sie von der Verwandtschaft unbedacht geschenkt bekommen hatten.
Wie viel Einfluss haben deine beiden Töchter auf deine Arbeit?
Sicher einen großen. „Ich groß, du klein“ oder „Familienbande“ sind aus meinen eigenen Erfahrungen als Mutter entstanden. Mittlerweile beeinflussen meine Töchter auch meinen Zeichenstil. Bei der ganzen Routine habe ich oft das Problem, dass ich anfange, zu perfektionistisch zu werden. Dann werden die Zeichnungen aber zu steif und seelenlos. Wenn ich dann sehe, wie meine Töchter zeichnen, mit so viel Kraft und Spontanität, dann weiß ich wieder, wie man es richtig macht!
Wie haben sich die Themen für Kinderbücher und die Zusammenarbeit mit den Verlagen im Laufe der Zeit verändert?
Insofern, als drei meiner wichtigsten Bücher gar nicht mit Verlagen entstanden sind. Mit der Autorin Kathrin Schrocke mache ich seit zehn Jahren Bücher, die für Personengruppen mit schwierigen Erfahrungen gedacht sind. Das erste war „Schattige Plätzchen“ für das Psychotraumzentrum der Bundeswehr in Berlin. Es erklärt Kindern von Soldat*innen mit Posttraumatischer Belastungsstörung, was mit ihren Eltern los ist. Mittlerweile wurde es auch ins Ukrainische übersetzt und an Familien vor Ort verteilt. Unser neues Buch „Anders zu Hause“ erklärt das Leben in einer Wohngruppe der Jugendhilfe und wurde vom Kinderheim der Caritas in Rheine in Auftrag gegeben.
Was ist das Besondere an dieser Arbeit?
Dass wir uns ganz auf die Zielgruppe und ihre Bedürfnisse einstellen können, ohne uns vor einem Gremium von Vertriebsleuten rechtfertigen zu müssen, ob sich das jetzt gut verkauft oder nicht. Wie die Bücher dann ankommen, sehen wir an den positiven Rückmeldungen der Leser*innen.
Zum Beispiel im Hof Hesselmann, aber auch anderswo, stellst du deine Bücher in Lesungen Kindern und Familien vor. Wie groß ist die Aufnahmebereitschaft bei den Kids?
Die Kinder bei den Lesungen sind großartig! Ich bin immer wieder fasziniert, wie sie voll bei der Sache sind, laut lachen und mitmachen. Meine Theorie ist: Ein gutes Buch mit Leidenschaft gelesen, schlägt jedes Smartphone. Was suchen wir und die Kinder denn in den Smartphones? Ich denke, wir suchen gute Unterhaltung und die Verbindung zu anderen. Wenn man das live und in echt haben kann, dann finden das die Kinder auch heutzutage immer noch sehr gut!
Auf welche neuen Projekte mit dir können wir uns freuen?
Ich mache die Illus für ein Buch der großartigen Autorin Frauke Angel. Mit Kathrin Schrocke arbeite ich an zwei Büchern für besondere Auftraggeber. Die Feuerwehrseelsorge Baden-Württemberg möchte, dass wir ein Buch für Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehr umsetzen. Zudem steht im Raum, ein Buch für Kinder zu entwickeln, die Elternteile im Krieg verloren haben, ohne Verlag, finanziert durch Spenden.
Welche Bücher liest du selbst am liebsten und warum?
Schwere Frage, ich lese so unterschiedliche Sachen. Ich liebe Fachbücher zu Psychothemen, aber auch „Die Zeit“ und „Rums“ lese ich regelmäßig. Romane lese ich am liebsten im Zug und im Urlaub. Manchmal höre ich auch Hörbücher beim Zeichnen. Stundenlanges Kolorieren kann nämlich sehr langweilig sein.

Kinder bei den Lesungen sind großartig
Du hast neulich Wahlplakate „gerettet“. Was hast du da gemacht?
Als im Herbst die Ampel zerbrach und ich die Prognosen für die AfD gesehen habe, war ich geschockt. Dann wurde mir schnell klar, ich kann mich jetzt nicht einfach in mein Kämmerlein zurückziehen und weinen. Durch eine Mail an Freund*innen habe ich Verbündete gefunden. Wir haben uns für die Grünen im Wahlkampf engagiert. In der Woche vor der Wahl hatte meine Mitstreiterin Maike Denker die Idee, beschädigte Plakate, die nicht mehr neu geklebt werden können, zu flicken und mit aufgeklebten Sprüchen aufzuwerten. Mit meiner Atelierkollegin Cathy Ionesco waren wir zu dritt unterwegs. Nach mehreren geretteten kleinen Plakaten entdeckten wir das große Plakat von Sylvia Rietenberg vor dem Cinema. Ein großes Stück war abgerissen, sodass ihr Mund und das halbe Gesicht gefehlt haben.
Was habt ihr dann gemacht?
Da wir Farben und Pinsel dabeihatten, kam mir die spontane Idee, aus der weißen Fläche den Arm eines Eisbären zu machen, der sie umarmt. Wir haben uns die Erlaubnis der Grünen Münster geholt, aus dem Café Garbo eine Trittleiter ausgeliehen und angefangen zu pinseln. Die Aktion haben wir in Zeitraffer gefilmt.
Wie war das Feedback?
Zwei Passanten hatten erst gedacht, wir würden das Plakat zerstören wollen. Aber wir bekamen so viele positive Rückmeldungen, dass wir zwei Tage später ein Robert-Habeck-Plakat an der Hammer Straße bemalt haben. Zeitrafferfilm und Foto des Plakats haben es sogar auf den Instagram-Account von Habeck geschafft. Am Samstag vor der Wahl haben wir mit 20 pinselnden Menschen eine Familienaktion mit einem komplett zerstörten Plakat von Sylvia an der Hafenstraße gemacht zum Thema „Wählt Liebe“. Danach war ich so aufgeladen mit positiver Energie. Das hat mir sehr geholfen, den Wahltag zu überstehen. Auch durch die Rückmeldungen von so vielen, dass wir in Zeiten voller Hass und Spaltung mehr schöne Aktionen brauchen, die uns verbinden, damit wir die Hoffnung nicht verlieren.
Wirst du die Aktion zur Kommunalwahl NRW im Herbst wiederholen?
Kann ich noch nicht genau sagen. Aber wer weiß, vielleicht ergibt sich wieder was und wenn es sich richtig anfühlt, dann bin ich die Letzte, die bei einem großen bunten Bild nicht mitmalen will.
Lilli L’Arronge
Geboren 1979 in Regensburg heißt Lilli L’Arronge bürgerlich Christine Nippoldt (geborene Goppel), ihr Rufname ist „Gustl“. 2006 gründete sie gemeinsam mit anderen Kreativen die Ateliergemeinschaft Hafenstraße 64. Dort hat sie bis heute ihr Atelier. Die Mutter zweier Töchter liebt es, im Garten „rumzuwursteln“, spielt Schlagzeug und Cello für den fröhlichen Hausgebrauch.
www.lilli-larronge.de
www.christine-nippoldt.de
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Lilli L’Arronge